Thomas Mießgang über Nachtblau

Let`s get lost! Essay von Thomas Mießgang :

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Als Blau bezeichnet man die wahrgenommene Farbe von Licht, das eine Wellenlänge zwischen 450 und 500 nm hat. Blau: Symbol der Ferne und der Tiefe, Sinnbild der romantischen Suche nach Erfüllung. Der französische Künstler Yves Klein war von der Farbe so fasziniert, dass er sie zum fast ausschließlichen koloristischen Element seiner monochromen Bildkompositionen machte: Nachtblau ist die Farbe meiner Sehnsucht, meines Zorns, meiner Melancholie.
Die Multimedia-Rock-Performance der Sängerin Rosivita und des Komponisten und Keyboardspielers Klaus Karlbauer siedelt sich somit in einem metaphorisch aufgeladenen Feld an. ´L `Heure bleue`: Zeit zwischen Tag und Nacht, Grenze zwischen Wachen und Träumen, zwischen Leben und Sterben. ´The lipstick on my lips has gone,
my eyes are heavy from the night!`
„Nachtblau ist die Farbe meines Zorns‰ handelt von solchen existentiellen Zwischenräumen: Zwölf Songs, lose verbunden durch Intuition und eine immanente Morbidität: ´Ich schneide mir die Adern auf, Das Blut, das soll jetzt fließen.`
≥Nachtblau„ ist eine Variation über die alte Dornröschen-Geschichte, allerdings ohne Schloß und Spinnweben. Die Musik driftet durch eine künstlerische Niemandsbucht: Zitternde Treble-Gitarren, von der Wüstensonne gedörrt, ein flächiges Noir-Keyboard, trockene Schlagzeug-Hiebe. Das wirkt wie eine Postkarte aus einer entlegenen Zeitfalte, eine Botschaft aus einem Reich, in dem die Menschen sich selbst abhanden gekommen sind. Hundertjähriger Tiefschlaf der Gegenkultur, doch etwas hat überlebt. Man könnte ≥Nachtblau„ in einen geistigen Zusammenhang mit der Video-Perfomance ≥Mistaken Memories of Mediaeval Manhattan„ von Brian Eno stellen: Auch hier wird eine Epoche evoziert, die so nie existiert hat, auch hier dämpfen verwischte Konturen und sanfte Farbübergänge die Erinnerung und laden zu Träumen ein, die wie Nachtgewächse im Unterbewusstsein wuchern.
Die von Rosivita verkörperte, ins Heute verschobene Dornröschenfigur ist nicht jene in den Tiefschlaf versenkte Prinzessin aus dem Märchen, sondern eine Frau, die in Wachträumen auf die Suche nach sich selbst und jenem ´locus amoenus` ist, den die rebellischen Jugendbewegungen der vergangenen Jahrzehnte einst in Aussicht gestellt haben: ´Ich bin so hungrig. Gibt`s denn nichts, was diesen Hunger stillen kann?`
≥Nachtblau„ ist eine Expedition ins Unbekannte entlegener Gefühlsregionen zwischen ´Pavor nocturnus` und luziden Klarträumen. Ein Versuch, in der Interzone einer imaginierten Spiegelwelt Reste von jenem ´Elan Vital` zu finden, der als gesellschaftliche Energie verpufft ist. Man fühlt sich gelegentlich an den Narkoleptiker erinnert, der in Gus van Sants Film ≥My own private Idaho„ von River Phoenix gespielt wird: Eine unruhige Figur, die immer wieder aus ihrem Leben und aus der Zeit herausfällt und in ihrer psychischen Instabilität wie ein Spiegel der Welt wirkt, die immer mehr aus den Fugen gerät.
´The years are gone!
Ich habe nichts bemerkt.
Warum habt ihr mich nicht aufgeweckt
aus meinem langen Traum?´

Das Leben wird zur Fermate, in der die Zeit stillgestellt ist und die Phantasien sich jenseits eines Kontinuums des Seins entfalten. Entropie und Seelenaufruhr, Gier und Verzweiflung, Wahnsinn und Gesellschaft. Natürlich ist ≥Nachtblau„ nicht aus dem Nichts geboren, sondern lädt geradezu zu Vergleichen ein: Man mag sich an die Wüstenrocker Giant Sand erinnert fühlen, an die düstere Triebtäter-Poesie eines Nick Cave, an Diseusen im Halbschatten verrauchter Bars wie Juliette Greco oder, zeitgenössischer, Leslie Woods. Aber nie schließt sich jener Kreis, der das Eklektizistische zum Epigonalen degradiert. Die Sprache oszilliert zwischen Englisch und Deutsch und kostet das jeweilige Timbre in seinen artikulatorischen Facetten und Bedeutungs-Echoräumen aus. Die Musik zitiert extensiv aus No Wave, Surf und Outlaw-Country und bringt mit Wah-Wah-Pedal und langen Verzerrertönen die Architektur der Songs zum Beben. Letztlich aber bleibt sie doch ortlos, ungebunden, nomadisierend zwischen Orten und Epochen.
Lonely Skin: Einsame Haut zwischen Ennui und Lebenshunger, Mitternachtsgesichter, fahl im Schein einer Neonröhre; schlafen, schweigen, vielleicht auch küssen.
Die australischen Aborigines, schreibt Bruce Chatwin in ≥Traumpfade„, hätten durch ihren Gesang überhaupt erst Berge, Felsen, Flüsse, Wasserlöcher, Pflanzen und Tiere geschaffen. „Die Handelsstraße ist die Songline. Denn Lieder und nicht Dinge sind Hauptgegenstand des Tauschens.„
In diesem Sinne markiert ≥Nachtblau„ das Territorium eines imaginären Mikrokosmos. Die zwölf Lieder sind Traumpfade durch eine Welt halbvergessener Exzesse und nie gehaltener Versprechen. Sie erzählen ein Märchen in Bruchstücken, das nicht auf ein Happy End zusteuert, sondern auf einen Pistolenschuß. Und trotzdem gibt es irgendwo noch die Vorstellung vom Paradies: ´I saw it, I felt it, I lived it `
Let`s get lost!